Künstler sind das Normale, dachte ich als Kind. Aber das lag wohl daran, dass es mein Umfeld war und ganz normales alltägliches Leben, in dem ich aufwuchs. Künstlerbiografien, die nicht vom Ruf namhafter Institutionen oder Künstlergruppen profitieren und schon allein dadurch in der Öffentlichkeit stehen, bleiben oft unentdeckt, sind aber vielleicht besonders interessante Geschichten.
Marie von Schütz war eine schöne Frau und eine kunstsinnige Dame. Sie malte, war streng und darüber hinaus für ihren kleinsten Enkel Martin Hadelich (1903- 2004) keine besonders bewegende Erinnerung. Dessen schwierige Kindheit als jüngstes von sieben Geschwistern im Hause des malenden, jähzornigen Pfarrer-Vaters Max und der geliebten gütigen Mutter Luise, die zu früh starb, blieb ihm ein lebenslanges Trauma. Schon allein der Lebensweg dieses introvertierten Künstlers ist eine lange, über 100-jährige Geschichte. Dabei ein eher stiller Weg und man muss bewundern, wie eine vom Vater unterdrückte Begabung ihren Weg sucht und findet. Gegen alle Widerstände und das meint sowohl seine Umgebung, als auch die Schwierigkeiten mit sich selbst. Mit 46 Jahren hatte er die Mitte seines Lebens noch längst nicht erreicht.
Der Fabrikarbeiter, spätere Futtermittelhändler, dann Töpfer, folgte seiner Berufung, wechselte die Stadt, fand eine neue Liebe und wurde endlich freischaffender Bildhauer in Dessau. Weitere 46 Jahre übte er diesen Beruf aus, bis ins 92. Lebensjahr. Er lebte zwei Leben in einem.
Ein Autodidakt mit Vorliebe für heitere figürliche Plastiken. Und ein schwieriger Einzelgänger. Seine neue Frau Irmela Hadelich-Nauck (1923-2017) war Grafikerin, Autorin von Kinderbüchern, humorvollen Geschichten-Gedichten und ein fröhliches positives Wesen.
Ihre Eltern waren keine hauptberuflichen Künstler, aber zum Teil mehrfach künstlerisch begabt, prägten und förderten ihre zweite Tochter Irmela. Mutter Vera Nauck, eine Lehrerin, (1892 -1968) war eine begabte Pianistin, die mit Berufsmusikern als Klaviertrio öffentlich reüssierte. Und außerdem meine einzige, über alles geliebte Großmutter.
Irmelas Vater Fritz Nauck (1885 -1948) spielte Cello als Hausmusiker, malte Landschaftsbilder, dichtete geistreich und fand in der Vereinigung „Schlaraffia“ dafür ein großes Publikum. Er fotografierte auf Reisen in hoher Qualität Landschaften, die auch als Zeitdokumente beeindrucken. Zahlreiche Silbergelatineabzüge mit Material der AGFA Wolfen, wo er als Physiker tätig war, sind noch ausgezeichnet erhalten. Er verunglückte mit 53 Jahren auf dem AGFA-Gelände, so dass ich ihn nie kennenlernen durfte. Sein Wesen, wie auch die philosophische Art Gedichte zu schreiben, soll der meinen ähnlich sein. Das Schreiben ist in der Nauckschen Familie gleich mehrfach verankert: seine Schwester, Lotty Burchard-Nauck, war eine namhafte Dichterin und Bühnenautorin in Riga, wie sich aus einem Zeitungsartikel von 1929 nachlesen lässt. Meine Mutter lobte vor allem die schönen Märchen, die sie schrieb. Der Hang zum Märchenhaften ist also mehrfach angelegt in meiner mütterlichen Linie.
Zurück zu meiner Mutter Irmela: In der künstlerischen Arbeit entwickelte sie in kreativer Gemeinschaft mit Martin, meinem Vater unter anderem viele große Keramikwandbilder im öffentlichen Raum. Weshalb ihre Arbeit als Autorin und Illustratorin, die sie als junge Frau, sowie als alte Dame auch wieder ausübte, über mehrere Jahrzehnte brach lag. Und zwischendurch entstand 1955 die gemeinsame Tochter Christine, also ich.
Es war für mich nichts Besonderes, dass mein Vater 52 Jahre alt war, als ich geboren wurde. Auch nicht, von so viel Kunst umgeben zu sein. Das war tägliches Leben und es gefiel mir, zu zeichnen oder in Vaters Werkstatt- Atelier zu modellieren. Den Beruf der Plastikerin zu wählen war keine Frage der Abwägung. Es stand nichts anderes ernsthaft zur Debatte. Mein Interesse galt dabei immer der figürlichen Darstellung. Später auch der Kombination von Gefäß oder Objekt mit Figur. Schreiben und Dichten gehörte von kleinauf ebenso dazu, aber erst mit fast 50 Jahren dachte ich an Veröffentlichung.
Außerdem lässt sich der Drang zum Modellieren schon im fünften Lebensjahr definitiv nachweisen, das Dichten erst im achten, also hat die bildende Kunst eindeutig die älteren Rechte in meinem Leben. Als ich mich ein Jahr vor meinem Diplom in Olaf Rammelt (*1954) verliebte, glaubte ich, einen interessanten und intelligenten Nichtkünstler gefunden zu haben. Dass er der Sohn eines Kollegen meiner Eltern war, wusste ich schon seit Kindertagen. Wir lebten ja in einer Stadt und kannten uns von klein auf. Dass seine kulturtheoretische wissenschaftliche Arbeit ein großes zeichnerisches Talent verdeckte, fand ich erst dann heraus. Und trug dazu bei, dass er neue Prioritäten setzte. Dass es manchmal große Umwege braucht, um die eigentliche Profession zu erlangen, war mir durch die Biografie meines Vaters bestens vertraut.
Heute ist Olaf Zeichner, Maler und Designer. Ein Multitalent. Seine seltene Begabung, Tiere mit wenigen Strichen auf dem Papier lebendig machen zu können, hat er vom Vater geerbt und zu hoher Perfektion gebracht. Der Umstand, dass manche Künstler einer langen Tradition entstammen und vielseitig sind, könnte die Vermutung nahelegen, dass sie es leichter haben. Die praktische Erfahrung sieht anders aus.
Tröstlich dabei ist, dass der Zusammenhalt in der Familie manche Schwierigkeiten mit der „Außenwelt“ kompensieren kann.
Olafs große Schwester Annekathrin Bürger (*1937), geborene Rammelt, kannte ich auch bereits in meiner Kinderzeit.
Um 1960 war sie die erste, hier im Osten, allseits bekannte DDR-Schauspiel-Diva, von vielen im Land verehrt und bewundert. Mein Vater modellierte damals ein Portrait von ihr und ich erinnere mich höchst lebendig an jenen Abend, als sie mir während eines Festes in unserer Wohnung an meinem Kinderbett „Gute Nacht“ sagte. Ungefähr zwanzig Jahre, viele Film und Bühnenrollen später, wurde „die Bürger“ meine Schwägerin. 2007 schrieb sie ihre Autobiografie. Allerdings, Annekathrins Leben mit so unglaublich vielen Geschichten, Erlebnissen und Fotos im Privaten, sowie vor allem auf dem öffentlichen Parkett der darstellenden Kunst, füllt mehr als ein Buch. Und einige ihrer Erlebnisse schrieb sie für unser Buch „Geliebte Ostsee“ auf und macht damit auch erfolgreiche Lesungen.
Ihr Mann Rolf Römer, (1935-2000) gleichfalls Schauspieler, aber auch Regisseur und Drehbuchautor, war ebenso eine besondere und eigenwillige Persönlichkeit.
Abgesehen davon, dass ich ihn mochte, war er ein traumhafter Erzähler mit einer wunderbaren Stimme und ich fand es immer schade, dass man ihn schon zu der Zeit, als ich in die Familie einheiratete, aus politischen Gründen beruflich ins Abseits gestellt hatte. Was für eine Vergeudung von Talent. Nach seinem tragischen Unfalltod mit 65 Jahren war mir das Modellieren seiner Büste aus der Erinnerung ein tiefes Bedürfnis und meine ganz persönliche Form der Trauerarbeit.
Olafs Vater Heinz Rammelt (1912-2004), Tierzeichner und Maler, war ebenfalls ein Ausnahmekünstler. Er hatte eine fundierte akademische Ausbildung und schulte sich dennoch am liebsten an der Natur. Beispielsweise im Zoo, im Zirkus oder auf der Weide zeichnete er
meisterlich Tiere. Einige Zeit lebte er im Vorkriegs-Berlin, war Hauptzeichner beim dt. Zeichenfilm und zeichnete für die Büchergilde. Er wurde ausgebombt, war nach dem Krieg Pressezeichner in Berlin und portraitierte in den angesagten Treffpunkten wie Hajo-Bar und Möwe auch bekannte Persönlichkeiten.
Viele zählten zu seinen Freunden, wie Brigitte Mira, Lotte Werkmeister, Werner Klemke, Waldemar Bonsels, Friedrich Lufft, Max Schwimmer, John Heartfield, Ludwig Turek, H.J. Preil, Peter Sinijen, Leo Haas, Josef Hegenbarth, die Zoodirektoren Dathe und Dietrich oder Zirkusdirektoren wie Paula Busch u.v.a.m. Er illustrierte unglaublich viele Buchtitel, auch Kinderbücher, die bis zu neunmal aufgelegt wurden.
Käte Rammelt-Bürger (1877-1943), seine Mutter und Förderin, war selbst eine beliebte Malerin. Mit ihren Bildern und einem Kostüm- und Maskenverleih verdiente sie in Leipzig den Unterhalt für die Familie und die Ausbildung des hochbegabten Sohnes Heinz. Der Vater
von Käte war der Leipziger Baumeister und Architekt Berthold, der Erbauer solcher Etablissements wie zum Beispiel des berühmten Leipziger Kristallpalastes.
Bereits in den Generationen davor gab es in dieser Linie weitere Künstler, z.B. einen Ururgroßvater, seines Zeichens Hofmaler zu Altenburg, Julius Bürger und auch einen Hinterglasmaler aus der Linie Sebastian. Von jedem dieser beiden besitzen wir auch ein kleines Bild.
Und diese künstlerische Tradition endet nicht mit Olaf und Christine. Sie wächst mit unserer Tochter Luise Henriette Rammelt (* 1982) weiter in die nächste Generation. Eine junge Designerin und Fotografin, die außerdem begabt ist im Malen und Schreiben. Sie
erfindet herrlich phantasievolle Geschichten und schreibt dabei immer auch über das Leben. Ob ihr Söhnchen Jonathan Paul (* 2019) einmal die künstlerische Linie fortsetzt, bleibt natürlich noch viele Jahre abzuwarten.
Nun bin ich wieder bei meiner Anfangsfrage.
Und ich vermute, eine Geschichte, die solch große Künstlerfamilie beschreibt, aus der noch vieles zu erzählen wäre, mit all ihren individuellen Charakteren und Besonderheiten, gegenseitigen Einflüssen, künstlerischen Handschriften und ganz verschiedenen Wegen zu einem Leben für die Kunst über insgesamt mehr als 150 Jahre, hätte wahrscheinlich niemand so erfunden.
(Text von Christine Rammelt-Hadelich für die Familienbiografie)